WIE SCHREIBT MAN ‚ABENTEUER‘?
22.-23.6.17. Auf nach Berlin, Dave Gahan (Depeche Mode) erwartet mich schon. Die Karte war ein Geschenk einer Freundin. Sie hatte auch den Zug gebucht, kommt selbst aber mit dem Flieger aus Zürich. Der Zeitplan ist eng, doch da mich die Vorgruppe ohnehin nicht interessiert...
Am HH BHF klebt Schulter an Schulter das halbe Land, alle recken ihre Hälse, an den Schaltern lohnt sich kein Anstellen mehr. Als der Zug nach Berlin endlich einrollen soll, lesen wir Wartenden mit Schrecken auf der Tafel: +60 Min.! Neben mir flucht ein Pärchen: das ginge schon seit 12 Uhr mittags so! - Ich falle einen Schaffner von hinten an, noch bevor ich eine Frage stellen kann, ahnt er sie bereits: „Nein, das wird heute noch lange nichts werden, beschimpfen Sie die Unwettergötter aus Hamburg und Berlin!“ - Mir beschleunigt die Pumpe und schmilzt mir das Bauchfett unterm Shirt, wo vor 2 Stunden der Tag noch wie Nacht und in apokalyptische Schwärze getaucht war, brennt mir jetzt die Sonne fast Löcher in die Haut. Ein Typ verteilt gerade Wasserflaschen an die Frustrierten. Plan B?
Ich eile zum ZOB. Ich schätze 400 Menschen in der Schlange, bis mich jemand an einen versteckten Schalter in der hinteren Ecke ruft. Stoische Ruhe spricht zu mir: "In 40 Minuten geht der nächste Bus, Sie wären dann ca. 21h10 in Berlin. 1 Ticket ist noch da!" Fuck!
Die Sprachnachrichten an meine Freundin, die gleich im Flieger sitzt, werden immer heuliger. Ich starte einen Aufruf (Mitfahrgelegenheit) auf FB und kann jetzt nur noch warten! Eine Freundin schreibt mir: „Wer weiß, warum du hier bleiben sollst!“ Soll ich das? Innerlich zieht es mich fort, weibliche Intuition und so... Getrampt bin ich 30 Jahre nicht mehr, und selbst fahren? Meine Karre hatte ich drei Stunden zuvor in die Werkstatt gebracht. Ich fahre nach Hause und brauche Plan C, da geht das Telefon. Eine Freundin aus Berlin sagt, sie habe gerade ihre VIP-Karten fürs Konzert verschenkt, das Wetter sei einfach Scheiße! Dann erreicht mich eine weitere Freundin und kündigt an, dass ihr Kerl mich um 18h15 von Zuhause abholen könne! Bingo! Auch ohne Konzert – das bin ich meiner Freundin schuldig, die so schöne Absichten mit Konzert und Hotel verband!
Mit 240 Sachen rauscht der Wagen über den Asphalt, wobei der Türgriff und meine Handfläche bald eins sind. „Hey, Beifahrer zu sein, heißt auch: Loslassen zu können!“ Stimmt! Als ich mich auf Krampf entspanne, spricht der Donnergott bereits vom Himmel. Der Kumpel zeigt mir, was der Wagen alles kann.... im Falle eines Sekundenschlafs oder bei zu engem Auffahren. Ich bin beeindruckt und vertraue dem Freund, der seine Kinder und sein Leben wissentlich liebt!
Angekommen! Vorm Hotel überspringe ich Pfützen, meine Sandalen sind trotzdem nass wie mein Kopfhaar - innerhalb der 20 Meter Fußmarsch bis zur Eingangshalle. Ein junger Portier scheint gerade die Nerven zu verlieren, flucht und schimpft herum. Perfektes timing!
"Guten Abend! Nicht so genervt sein, bitte. Ich bin doch jetzt da und möchte gern einchecken!“
Er schaut mir nicht mal in die Augen. „Ich kann nicht mehr, jetzt streiken auch noch Telefon und Computer, und Ihnen muss ich sagen...“ Endlich schaut er auf und weiß, ich bin tatsächlich da - „dass es ein Problem mit Ihrem Zimmer gibt! Wir haben Sie bereits… umgebucht!“
Ich kriege meinen ersten Herzinfarkt und schnappe nach Luft. „Sie geben mir jetzt erst mal einen leckeren Macciato aufs Haus und erklären mir dann alles in Ruhe, ja? Bis dahin bitte durchhalten!“
Ich suche die Bar auf und möchte den Dialog am liebsten im Schaum ersaufen.
Bevor ich mich in ein Taxi zu meinem mir unbekannten Ziel setze, gebe ich dem jungen Mann ein Minutencoaching, sonst wäre er wohl explodiert. Und das wäre weitaus schlimmer als der angebliche Wasserschaden in meinem Zimmer!
Ich handle eine weitere Taxifahrt aufs Haus für den Morgen aus, denn ich habe ein Meeting mit einem Brautpaar im Frühstücksraum.
Im Taxi peitscht der Regen an den Scheiben, als würde jemand auf uns schießen. Ich träume von einem Schaumbad und einer Käseplatte aufs Zimmer, wo ich zwar traurig, doch auch gemütlich auf meine Freundin warten würde.
Nach 9 km weiß ich, das ist kein schlechter Film, das ist verdammte Realität! Ich sollte mich kneifen, bis ich mir weh tue, um zu verstehen.....es ist die schlichteste – ich sagte nicht schlechteste – Pension meines Lebens!
Mit mir gemeinsam betritt ein Herr den Empfang. Eine junge Frau blickt abwechselnd von mir zu ihm, dann legt sie los: „Sie möchten einchecken?“ Fast zeitgleich bestätigen wir beide, doch bevor sie uns einen Schlüssel aushändigen kann, merke ich nur ganz kurz an: „Aber nicht zusammen. Ich bin dem Mann noch nie zuvor begegnet!“
Das Chaos scheint perfekt! Die hilflose Frau ruft telefonisch ihren Chef zur Hilfe. - Das letzte Zimmer sei doppelt gebucht worden, das könne sie sich auch nicht erklären. Später kann es immerhin der Chef.
Ich schaue mir den Herrn, der ohne Unterlass sein Handy betippt, noch einmal seeehr genau an - manchmal sind solche Umstände ja der Beginn einer ganz großen Liebesgeschichte! Doch nein, bitte hinfort mit meinem Hirngespinst, hinfort!!
Gedankenverloren frage ich ihn auf englisch, ob wir um das letzte Zimmer knobeln oder wir über „ching chung chong“ spielerisch eine Entscheidung erzwingen sollten. Nein, er wolle jetzt nicht mir mir spielen!
Sein Flieger wurde storniert und diese Stadt hat keine freien Zimmer mehr, bis auf dieses eine, das er vor Stunden zugesagt bekam.
Die junge Dame am Empfang schenkt mir nun Saft ins Glas und raucht erst mal eine mit mir. Sie habe bereits seit Stunden Feierabend!
Ich teile meiner Freundin die spannenden Neuigkeiten mit, als zeitgleich von ihr aufploppt: „Schaaatz, hammergeil! Aber mich kannste gleich auswringen!“
Es ist 0h30, als die junge Empfangsdame mich fragt, ob ich nicht Freunde in Berlin habe, wo ich vielleicht.... ? „Ja, habe ich. Die schlafen schon. Ich könnte sie zwar alle wecken, doch bin ich viel zu heiß auf den Ausgang dieser Geschichte!“
Ich erkundige mich nach Feldbetten für den Notfall und entdecke durch einen Spalt hinter dem Tresen zwischen Kisten und Kartons eins zum Klappen, für 1 Person.
„Zur Not könnte ich also im Foyer schlafen?“ Jaja, freut sich der Chef, der gerade eingetroffen ist - diese Möglichkeit gäbe es natürlich auch! Ich wende mich an den Herrn, der immer bedrückter wirkt, ob das für ihn eine Option sei, während ich mit meiner Freundin das Zimmer.... Gentleman vs 2 Damen! - Er will mich scheinbar nicht verstehen, was ich natürlich wiederum verstehe.... der Chef ruft vom Schalter rüber, er habe endlich was gefunden! Der Held des Abends, der aber vorher auch alles vermasselte.
Als der Herr im Taxi sitzt, will Chef wohl mein Gewissen angehen. „Also, DER hätte heute sogar über 250€ bezahlt!“
Tja, das tut mir leid. Sehr leid. Sehr! Nun ja, Karma oder so!
Gegen 1h45 erscheint meine Freundin, macht sich nackt und wringt fast fröhlich ihre Jeans, das Shirt und die Schuhe aus. Fette Herzen hat sie in den Augen, die leuchten wie Sterne; wie Verstrahlung, und während sie nackt durchs Zimmer tanzt, übergibt sie mir ein kleines Andenken: „Schatzi, jetzt hast du wenigstens einen schönen Becher!“
Bis etwa 3Uhr morgens fönt sie ihre Tracht und ihre Geldscheine - mich bringt das monotone Gebläse irgendwann in den Schlaf.
Ich freue mich schon auf die Braut am Morgen…wenn die wüsste!!
Um 7 Uhr geht mein Handy. Berliner Nummer. Ich gehe nicht ran. Ein zweites Mal. Ich gehe nicht ran. Dann bin ich endlich wach, und bevor ich diese Nummer zurückrufe, ploppt eine Nachricht auf.
„Entschuldige, Notfall - muss eine kranke Kollegin schnell im Krankenhaus ablösen. Ich hoffe, du genießt das tolle Konzert und die tolle Stadt! Finden wir einen neuen Termin die Tage?“
Verdammt, verdammt, verdammt, ich hatte mich doch so gefreut auf meine Braut!
Neben mir schlummert noch immer meine Freundin und träumt bestimmt vom Liebe machen mit Dave Gahan. Ich kann nicht glauben, wen ich gerade anrufe.
„Hotel XY?“ Ich fass' es nicht! „Brennt bei Ihnen die Sicherung durch?“- „Oh, Entschuldigung, Sie sind nicht die Technikfirma für unser Internet?“ Wasserschaden...
DACHSCHADEN! Wach ist wach, da hilft auch kein Geföne mehr. Ich werfe mich in meine einzige Schale und begebe mich auf Jagd nach einer Morgenlatte mit Schaum und Zimt. Ich staple einen Milchreis auf der Untertasse eines Kaffees für meine Freundin, für mich war nicht das Richtige dabei, beim Pensions-Brunch der Superlative.
Als ich versuche, mit dem Ellenbogen die Türklinke zu unserem Seiteneingang der Pension herunter zu drücken, verliert die Kaffeetasse das Gleichgewicht und verteilt ihre Brühe auf meinem silbernen Shirt. - Und jetzt das Ende im Schnelldurchlauf: wir frühstücken (ich mit silberbraun verflecktem Oberteil) im Hotel, bekommen zwei Käsekuchen aufs Haus (musste ich zurückgeben, weil Gummi noch besser schmeckt. „Nein, kann nicht sein! Ist immer frisch bei uns!“ „Ja, vor 5 Tagen vielleicht!“)
Ich bedanke mich trotzdem und freue mich auf das Abschlussgespräch mit der rechten Hand vom Chef. Ein junger, gut gelaunter Typ aus der Dom Rep, der uns nicht nur mit der Hälfte des Zimmerpreises entgegen kommen möchte, sondern uns auch gern noch 1 Nacht in seinem Haus anbieten will... und der Chef sei leider nicht da, er habe vor ein paar Tagen Geburtstag gehabt (ah! Ein Zwilling wie ich!) und sei gerade im Urlaub. - Wir bedanken uns für den unvergesslichen Aufenthalt, versprechen zwar kein Wiedersehen im Hotel, aber vielleicht mal in der Dom Rep.!
Meine Freundin und ich steuern intuitiv nach rechts den Kudamm runter, vor Augen schon die ‚Monkey Bar’ am Bikini Center.
Sie schwärmt noch immer vom Konzert, ich höre zu, sie schwärmt, ich staune, sie schwärmt - und sucht während des Spaziergang bereits im Internet nach Karten für den Auftritt in Hamburg. Natürlich gibt es keine mehr, außer vielleicht ‚schwarz‘. Doch ob schwarz oder weiß, oder bunt und kariert, ich bin für heute durch, obwohl der Tag gerade mal begonnen hat.
Irgendwann fällt endlich mal auf, dass wir die falsche Richtung laufen, springen auf der anderen Seite in den Bus und laufen zum Bikini Center. Doch leider schaffen wir es nicht mehr bis zur Monkey hoch - 3 traumhafte Hängematten im Hotel 25 hours liebäugeln mit mir...Jaja, ich komm' ja schon!...sagte die Köpp, ließ sich kurz fallen und schlief dann auch schon ein.
Zurück in Hamburg freue ich mich, dass ich meinen Saft nun immer aus dem neuen Becher trinken kann. Und ich freue mich, dass ich jetzt weiß, wofür die Reise nach Berlin so wichtig war: ohne mich hätte meine Freundin mit Sicherheit kein Zimmer mehr bekommen, weil.... .
Gute Nacht, Freunde. Auf das wundervolle Leben mit all seinen ungeplanten Abenteuern, die uns nie das Lachen nehmen dürfen!