Als wir telefonieren, weiß ich nur eines: dass sie 'gesessen' hat: 5 Jahre geschlossener, 5 Jahre offener Vollzug. Ich frage sie, ob sie mir jetzt schon sagen mag, warum. Ich schickte ihr Auszüge einiger Portraits, um ihr ein Gefühl für meine Schreibe zu vermitteln. Einer, die ebenfalls schreibt. Dann kommt das 'GO'!
Am 11.10.16 empfange ich sie in meinem Zuhause. Ich habe keine Angst.
Ich fülle Kaffee in zwei Gläser und serviere dazu warmen Kuchen.
„Wirst du es mir sagen?“ Sie senkt den Blick und schweigt. Dann flüstert sie: „Du schmeißt mich raus, wenn ich es tue, und ich... könnt’ das verstehen!" „Nein. Du wärest nicht gekommen, wenn du nicht ahntest, dass du es mir sagen kannst.“ - „Stimmt wahrscheinlich. Ich... ich habe… also, es gab einen erweiterten Suizidversuch, bei dem ich....“ Sie schluckt. „Ich habe... meine Tochter getötet.“
Totenstille. So still, dass ich den Furz einer Ameise hören könnte.
„Nun ja, 5 Jahre 'Geschlossener' steht nicht für Scheckbetrug!“
Ich schalte mein Mutterherz aus und öffne das der interessierten Journalistin. Jetzt will ich die ganze Geschichte, selbst wenn ich bei jeder ihrer Silbe spüre, wie sie um Worte kämpfen muss. Doch gleichzeitig wünsche ich mir, dass es ihr gut tut, mit mir zu reden. Ja, ich wünsche jener Frau und Mutter etwas, die ihr eigenes Kind tötete!
Sie. Der Name ist nicht wichtig. Einzelkind, Vater Offizier, bürgerliches Leben. „Doch mein Vater hat mich sehr geliebt - ZU SEHR!“ Noch lächle ich, weil ich nicht gleich kapiere, warum sie das betonen muss.
„Ich wurde sexuell missbraucht. Bis zum Äußersten!“
Scheiße. Und verdammt. Es schockt mich nur bedingt – ich habe schon so oft von derlei miesem Vergehen gehört.
„Unterschwellig war da dieses komische Gefühl, aber du hoffst natürlich, dass es nicht falsch sein kann, was er tut. Du weißt doch nicht, dass das, was deine Eltern tun, nicht richtig ist. Woher denn auch....ich war erst 8, als mein Vater ‚es’ tat."
Ob ihre Mutter etwas ahnte, könne sie nicht sagen. Das eine sei, was Mütter wissen, das andere, was sie nicht sehen wollen.
Die Eltern kaufen sich ein Haus und sie bezieht darin die Anliegerwohnung. Nach dem Abi folgt das Studium. Sie zieht es durch, obwohl sie längst schon weiß, dass diese Wahl die falsche war, warum sie danach gleich noch mal was anderes studiert.
Den Vater ihrer Tochter lernt sie früh kennen und heiratet. Ihr Mann, das Gegenteil ihres Vaters, ist der leise Versuch, ein Zeichen zu setzen. Sich dem permanenten Streben nach der Gunst des Vaters zu widersetzen, sich endlich aus den Fesseln zu befreien, und ihm doch insgeheim weiterhin gefallen zu wollen. „Ich konnte meinem Mann den gewünschten sozialen Status nicht verschaffen, aber schließlich ging es auch mehr um mein Motiv: die Revolte gegen meinen Vater, der an meiner Seite lieber einen völlig anderen gesehen hätte."
Das Verhältnis zur Tochter ist besonders eng, und als die Ehe endet, empfindet sie das 'allein erziehend' nicht annähernd als Bürde. Der Ex-Mann schaut zwar fast täglich vorbei, doch weil ihm Verantwortung fern liegt, bleibt er nicht mehr als ein 'Spielkamerad'.
Dann erfüllt sie sich den Traum von einem eigenen Geschäft. Doch weil es an Fachwissen mangelt, reicht es nicht zum Erfolg. Die Pleite scheint absehbar, und diese enorme Belastung führt sie direkt in die Ausweglosigkeit – DAS sei am Ende aber nur die Spitze des Eisbergs gewesen, dass jegliche Lebenslust aus ihr entweicht. Sie ist so leer und alles dreht sich nur darum, dem Leben zu entkommen. Sie spielt erste Szenarien durch, wie sie... bis sie keinen Ausweg findet, die geliebte Tochter sicher unterzubringen.
Dann ist der da, dieser 'Tunnelblick'. Sie kann sich niemand anvertrauen, weil die Hoffnungslosigkeit ihr den Ausgang versperrt. Immerhin fällt der Druck von ihr ab... die Würfel sind gefallen! Und die Tochter? Ohne einen Platz voller Wärme, Liebe und Geborgenheit bleibt nur die eine Lösung: der erweiterte Suizid. Ihre Tochter... mitten in der Pubertät. Noch nicht einmal mitten im Leben.
Es ist das Ende der 90er, kurz vorm Beginn des neuen Jahrtausends. Ihr ENDE ist zum Greifen nah – genau wie das des schlafenden Mädchens im Nebenraum. Das Mädchen, das sie so sehr liebt wie nichts anderes.
Die Tochter schläft, sie selbst schon lange nicht mehr. Sie rennt hellwach durch diesen 'Tunnel', abgeschirmt von potentiellen Rettungsringen. Kein rechts, kein links, kein Notausgang. Verloren und gefangen. Der Wunsch, das Leben zu beenden, ist alles, was sie sehen kann und alles, was sie will! Dann steht sie da, im Zimmer ihrer Tochter, die Hand als Faust um das Messer geballt. Gleich sticht sie zu.
Nach der Tat geht sie ins Schlafzimmer zurück, spürt ihren Kopf schon in der Schlinge. Doch als der drin hängt... reißt der Strick! Danach geht alles schnell! Wie von Sinnen, im absoluten Ausnahmezustand, wählt sie 110. Zu diesem Zeitpunkt hat sie sich noch nicht mal vergewissert, ob ihre Tochter wirklich tot ist. Sie ist weder besoffen, noch hört sie fremde Stimmen im Kopf. Und trotzdem hat sie sich gerade für immer verloren. Hat alles verloren, was ihr lieb war. Nur das Atmen bleibt ihr noch. Im Gegensatz zu ihrer toten Tochter. Und dabei wollte doch nur SIE nicht mehr leben!
Als man sie abführt, bekommt sie den stärksten Medikamentencocktail. Es folgen drei Wochen Psychiatrie, gut bewacht, dann folgt die Zelle, ab in den Bau, ihr neues 'Zuhause'. Im 1. Gerichtsverfahren hatte man 12 Jahre verlangt, doch ihr Anwalt geht in Revision und schafft die Minderung auf 10.
„Mir war das alles egal, und alles war recht. Ich hatte nichts gesagt. Es gab ja nichts zu sagen. Ich war eine Mörderin. Oder eine Totschlägerin? Die Presse hatte das Gerichtsgebäude belagert. Und ich... erinnerte mich nicht einmal mehr an den genauen Tathergang. Meine Erinnerungen wiesen Löcher von den Medikamenten auf. Vielleicht ZUM GLÜCK!“
Ich nippe an meinem Kaffee und wende meinen Blick nicht von ihr ab. Sie, deren Stimme so weich ist, fast richtig angenehm. Nach außen wirkt sie wie ein 'mütterlicher' Typ – welch Krux!
Wie weit hätte ich fragen können? Wollte ich tatsächlich wissen, ob das Blut im Kinderzimmer und der Anblick der Tochter sie nachts in ihren Träumen besucht? Wollte ich wissen, was sie als erstes gedacht, als die Polizei sie aus der Wohnung holt? Ja! Und doch bohre ich nicht weiter, auch wenn die Fragen in meinem Kopf schon Spalier stehen. - Ich hatte es geahnt, ganz intuitiv mich zuvor schon gefragt, was wäre wenn... sie jemand umgebracht hat?
Sie sieht nicht aus wie eine, der man Brutalität zutraut. Doch wie sieht jemand aus, dem so was anzusehen oder zuzutrauen ist? Wer so was tut, ist im Ausnahmezustand. Kennt nur noch den Tunnelblick. Kennt weder Hoffnung noch Rat suchen. Nur eines: ENDE! EXITus!
„Ich spüre meine Tochter jeden Tag in mir. Es gibt kein Verzeihen, es gibt nur ein Lernen, mit den Wellen des Schmerzes zu leben.“
Ihr Leben im Knast bringt die Wende. Sie beginnt – wie viele andere auch – zu schreiben. Beginnt mit Tagebucheinträgen. Der Druck im Kopf muss raus. Einige malen auch, doch sie braucht weder Pinsel noch Farbe, lediglich Papier und Stifte. Rund 20 inhaftierte Frauen sind um sie herum, doch Gewalt in jeglicher Form habe sie in all den Jahren nicht erlebt, nicht wie Im Fernsehen – das sei anders!
"Als graues Mäuschen kam ich hinter Gitter. Als eine, die immer gefallen wollte, das aber nie wirklich geschafft hat." Eine Frau, dessen Fokus die permanente und stets vergebliche Anerkennung vom Vater, dem ihre größte Leistung noch nicht gut genug war. „Doch als ich rauskam, war ich endlich ICH! Gelernt hatte ich vor allem, dass das Äußere eines Menschen uns täuschen, falsch werten lässt und in die Irre führen kann."
Während des geschlossenen Vollzugs bereitete sie Wege vor, die sie im offenen Vollzug dann gehen könne. Sie leierte Praktikumsstellen an und nahm Kontakt zu Journalistenschulen auf (sie war bereits Redakteurin des Frauenknast-Magazins. Der Verdienst landete auf einem Extrakonto.) Als sie in den 'Offenen' wechselt, beschafft sie sich sogar eine Wohnung und hat wieder Ziele: Bücher und Texte verfassen über und von Menschen, die keine Stimme mehr haben. Sie will fortan ihr Sprachrohr sein!
Nach 10 Jahren ist sie frei. Ihr Zuhause ist noch ungewohnt, offene Zimmertüren richtig befremdlich! Doch weglaufen will sie nicht. Sie wird freie Journalistin und sogar polit. Pressesprecherin einer Abgeordneten. Als die Ideale der Partei nicht mehr ihre sind, schmeißt sie hin. Heute lebt sie von Arbeitslosengeld, ihren Büchern und Textaufträgen. „Wenn ich schon leben soll, dann will ich auch Sinnvolles tun.“
Wird sie dem Vater ihrer Tochter jemals wieder begegnen?
„Mein Exmann hatte Flugblätter in der Stadt verteilen lassen, wie eine wie ich hier noch leben könne. Ich wäre bereit für einen Dialog, doch niemals unbegleitet. Und meinen Vater habe ich nach meiner Tat nie mehr gesehen. Meine Mutter verstarb, und bis auf zwei Freunde sind mir keine weiteren geblieben. Ich habe alles wieder ganz neu aufgebaut.“
Das Sprechen über ihre Tat kommt äußerst selten vor. Nur die inneren Monologe bleiben, und mit ihnen die Zerrissenheit, der Schmerz und die Anklage.
Als sie aus der Tür ist, sind da intensive Bilder und Gefühle. Ich stelle mir die Tat vor, immer und immer wieder. Und gleichzeitig fühle ich mit einer Frau, die jeden Tag erneut verfolgt wird, von jenem entscheidenden Augenblick, in der die Ohnmacht über die Hoffnung siegte; in dem sie sich das Leben aus den Armen riss, und ebenso das ihres Kindes verstieß. Erstach. Zu atmen heißt nicht automatisch auch, zu leben!
Sie zuckt zusammen, wenn sie Kinder sieht und kann sich eine Partnerschaft nur schwer mit jemand vorstellen, der seinen Nachwuchs um sich schart. Ihr Gerichtsprozess ist abgeschlossen – doch der ihres 2. Lebens wird niemals enden. Frei wird sie niemals sein, auch wenn sie entlassen wurde.
Ihre Antwort auf dieses Portrait folgte prompt: ".... super übrigens – es war für mich ein riesiger Schritt nach vorn; mit einer Frau über meine Tat zu sprechen, die ich noch nicht einmal gut kenne. Vielen Dank dafür!..."