Du brauchst deine Beine nicht in Gang zu bringen, um große Dinge zu bewegen!

 

Da sitzt es mir nun gegenüber, dieses schelmische Lächeln mit der sexy Lücke zwischen den Zähnen. 

Ich treffe auf 27 Jahre Leben. Auf Power, Mut, Engagement, Willenskraft und hart erarbeitetes Selbstbewusstsein. 

 

Behinderung? Ja, sichtbar durch den Rollstuhl. Ich denke still, wie vielen Menschen man ihre Behinderung nicht einmal ansieht, weil die im Kopf steckt. Hier ist alles anders. Und wofür steht der Rollstuhl? Für 25 Jahre Muskelschwäche (Spinale Muskelatrophie). Und genau hier liegt schon die Krux, denn sichtbar ist sofort eine Stärke, und die gehört meiner heutigen Interviewpartnerin: ANASTASIA UMRIK. Die junge Frau aus Kasachstan.

Hineingeboren in dörfliche Armut mit deutlichem Mangel an Bildung, Nahrung und Moneten. Die Eltern verschuldeten sich, zogen durchs Land, um endlich eine Diagnose für ihre Tochter zu bekommen, die plötzlich nicht mehr laufen konnte. Mit 7 Jahren sitzt sie erstmals im Rollstuhl und erfährt das Urteil: „nie wieder laufen!“ 

In Deutschland fällt der Startschuss für ein neues Leben. Integrierte Klassen? Nein!

Anastasia dürstet es geradezu nach geistigem und intellektuellem Austausch unter den Mitschülern. Sie posaunt hinaus, wovon sie träumt: „Eines Tages komme ich groß raus!“ Natürlich wird sie dafür schnell belächelt - für sie jedoch nur noch mehr Ansporn! Ausgestattet mit der Sturheit ihres Vaters und dem Intellekt ihrer Mutter – zwei Treiber, die sie in ihrem Kampf immer unterstützten, warum sie keinen Neid für gehende Menschen empfindet. Sie möchte tatsächlich nicht tauschen!  

"Plötzlich gehen zu können... das wäre ein so einschneidendes Erlebnis, dass ich bezweifle, das einfach easy wegzustecken. Ich habe mich schließlich eingerichtet und bin IN und MIT mir angekommen!“ Sagt sie und grinst verschmitzt, als ich neugierig nach ihrem Kinderwunsch frage. Nein, sie könne nicht sagen, ob und dass sie damit wirklich durch sei.  

 

Wieder gehen zu können... wer stünde dann für sie im Mittelpunkt? "Ohne den Rollstuhl bin ich doch nur Eine von Vielen“. - Seit sie ihrem Haar einen Kurzhaarschnitt verpasste, würde sie auch nicht mehr gefragt, ob sie überhaupt lesen könne, denn „Kurzes Haar nimmt dir das och-wie-niedlich-eididei-Image!“

Ich spreche mit ihr über klassische Weiberthemen - über Zärtlichkeit und Sex. Ihr Körper sei schlapp, aber nichts an ihr sei amputiert, am wenigsten Gefühle und Empfindungen. Und natürlich kenne auch sie Liebeskummer wie jede andere auch. Sie weine, fluche und trauere nicht minder. "Aber jetzt will ich erst einmal gern tanzen!" schwärmt sie. Sie brauche dringend etwas, bei dem sie sich mal richtig abreagieren könne.  

Könnte sie doch wenigstens mal mit den Füßen stampfen! Immerhin - sie trage gern High Heels, auf denen sie nicht einmal umknicken könne. Eitel sei sie und modebewusst. Im selben Augenblick macht sie mich kurz auf ihre unlackierten Fingernägel aufmerksam. Das sei wirklich untypisch!

 

27 Jahre Leben – pralles Leben und Wirken! Man kennt ihr Gesicht, man hört ihr gern zu, man kann ihren Gedanken folgen und ihre Ideen nur teilen. ANDERSTARK und INKLUWAS sind ihre Babys, die längst aus den Kinderschuhen herausgewachsen sind. „Schade nur, dass ich mich immer noch zu wenig in den unterschiedlichsten Menschenkreisen bewege. Viele körperlich behinderte Menschen träumen mir zu viel, ohne dass sie für die Träume kämpfen. DA BIN ICH GANZ ANDERS!“

 

Ihre wechselnden Rund-Um-Assistentinnen nennt sie liebevoll „meine Arme und Beine“, die nur dann Ausgang haben, wenn sich Herrenbesuch ankündigt.

Anastasia - eine ziemlich ganz normale Frau, die richtig in die Gänge kommt, nicht nur, wenn sie den Drehmesser ihres Rollstuhls hochfährt.

„Conni, geben wir gemeinsam mal ne Lesung?“ Klar, das machen wir, verspreche ich, und im selben Atemzug kommt uns noch eine weitere Idee: ganz Hamburg sollte mal die Rollen tauschen: Alle Freiwilligen sollen 1 Tag lang den Alltag eines Behinderten erleben: als Rollstuhlfahrer, Blinde oder Taubstumme.

„Bestell mal Brötchen, wenn du taub bist!“ gibt sie mir mit auf den Weg. Ich muss kurz schlucken.

Später denke ich, was wären wir ohne die Blinden, die oft viel besser 'sehen' können als wir (vermeintlich) Sehenden.  

(2014)

 

Anm: 05/2020: REVANCHE! Sie podcastet nun MICH - und es wird das längste Interview meines Lebens!  klick