(2014)

Es gibt Gesichter, die sich einem nicht entziehen können. So wie das von Sanni. Ein Gesicht wie gemeißelt. Kurzum… ein GesamtKUNSTwerk!


Sandra. 43 Jahre Mensch. Wir teilen eine Pizza Hawaii, während mein Blick die Flut von Tattoos fixiert. Kaum ein Fleckchen Haut blieb der Tattoowierer-Nadeln fern. Hier hat man sich sichtlich ausgetobt. 
Sanni erzählt ihre (Körper)Geschichte. Sie, der ich vor 6 Jahren schon begegnet war, als sie verspießt in Bluse, Leinenhose, Blazer und Brille mit mir über meine Arbeiten sprechen wollte. Damals - frisch getrennt vom Mann und von einer Traurigkeit, die bei mir fast Schmerzen ausgelöst….
Ihre Odysee ist eine, die du eigentlich nicht hören willst, weil sie die blanke Konfrontation mit einer Welt ist, die meiner so fremd. Doch faszinierten mich tun mich solche Vitas ja am meisten!
Sanni, Scheidungskind mit 19. Eine Tatsache, die ihre Vorstellung von 'heiler Familie' über Bord geworfen hatte. Hauptschule, abgeschlossene Lehre als Restaurantfachfrau, wechselnde Jobs in Modeläden. 6 Jahre Beziehung mit dem einen, 14 Jahre mit dem anderen – mit dem sie weder Schmerz noch Chaos ausgelassen habe. Jetzt wird sie zur Anarchistin, beschließt Revolte, erträgt den materiellen Wahnsinn ihres Umfelds nicht mehr, zuwider sind ihr plötzlich die Geschenke des Vaters, der den Mangel an gemeinsamer Zeit mit Konsum ausgleichen will. Irgendwann und endlich erhebt sie ihre Stimme, wird laut: „Ich will keine Geschenke! Verdammt, ich will LIEBE!“
Statt Liebe findet sie Rausch und Extreme: Extrem kiffen, extrem Pillen einwerfen, extrem koksen - "aber NUR am Wochenende!" Bis... welch Teufelskreis - sie immer länger braucht, um von den Trips wieder runterzukommen, für ein bisschen Erholung am Rande. Für ein kleines bisschen ‚Erdung‘. Für… „die Tage unter der Woche!"
Halluzinationen und Depressionen ziehen sich als roter Faden durch ihr Leben, auch Therapien und wiederholte Einweisungen in die Geschlossene. Mit der Trennung von Haus und Partner ist die Scheiße perfekt! Sie bricht aus, häutet das einst graue Mäuschen und will sich doch so gern noch etwas Fröhlichkeit und Lebenswillen bewahren. - Die Verlobung mit einem Ex-Knacki und Tattoowierer gibt ihr Halt. Sie liebt und lebt mit ihm in einer Mini-Butze und wird schwanger. 
Erst verliert sie ihr Baby, dann die Beziehung, bis… ihr der Spagat zu viel wird. Sie kommt regelmäßig gleich drei Tage ohne Schlaf aus, dann wird sie wieder ‚eingewiesen‘. Die Tabletten - als Nahrungsergänzung für ihre erkrankte Seele. Böse Nebenwirkung: lebenslängliche Einnahme!
Dann der Diagnose-Schock: bipolar-manisch-depressive Störungen … ihre ab jetzt treuesten Begleiter! Suizidversuche folgen, weil scheinbar nichts ihr Martyrium beenden kann „Die Schmerzen sollten einfach für immer aufhören!“
Kurze Dekaden in für sie 'normalen Bahnen' holen sie zwar immer wieder aus dem Loch und Jobs ermöglichen ihr einen Kredit nach dem nächsten, bis ihr 'Kaufrausch' zur weiteren Sucht wird. Was folgen musste? Privat-Insolvenz!
Wo einst nur Arschgeweih war, reiht sich ein Bild neben das nächste.
„Ich möchte eines Tages kein (!) Stück blanke Haut mehr von mir sehen!“
Ein langer Weg - bis hoch zum Hals, begonnen bei den Zehen. Ihre Überzahl an Sommersprossen habe sie gehasst (und ICH wollte immer welche haben!)
Schon einige 'Stecher' haben ihre Nadeln auf ihr verewigt, doch Sannys Körpergefühl verändert sich zum Besseren. Die Nadel des Künstlers - ihr 'Werkzeug in der Not'. Salbei für die Seele. 
Als das Sparschwein leer gefressen ist, tauscht sie Körper gegen Kohle. Fast zwei Jahre lang. Dann ist sie clean, selbst von den Joints. Nie wieder will sie das Fähnchen im Wind sein; will lieber Kunst sein und diese gern zur Schau tragen; will sogar selbst die eigene Kreativ-Ader (das Malen) wiederbeleben. Sie will ihr Leben zeigen, ihre Stationen... kaum eine erlebte sie als glückliche. Sie will auf die Bilder zeigen, mahnend den  Zeigefinger erheben und es hinausschreien: „Niiiiie wieder!“
43 Jahre Menschsein, inklusive sexueller Mißhandlungen und früher Abschiede für immer. Vom Onkel, der mit 30 an Drogen stirbt und vom Opa, der nach einem schweren Unfall mit Tabletten Suizid begeht. Dann sind da noch die Ängste ihrer Mutter, der sie seit über 8 Jahren nicht mehr begegnete.
Sanny lächelt, spricht manchmal ganz zart, schon fast zerbrechlich. Schmerzen, Einsamkeit und Depressionen. Und Glück? „Ich muss dafür nur an der Nordsee sitzen oder frische Blumen riechen!“ Wenn sie zaubern könnte? Würde sie in Spanien leben; gern wieder tanzen; ein Leben an der Seite eines Mannes, der tattowiert, ein Visionär und Freigeist sei, mit ganz viel Herz und Wissen, mit der Erfahrung, wie man schweben kann und der Erkenntnis, wie man wieder landen und mit beiden Beinen auf der Erde stehen wird!
Sanny – die Suchende, die Leidende, die Frohnatur. Sie hat gelitten und erfahren, zu Kreuze will sie aber nie mehr gehen. „Nur der Tod meiner Eltern wird mir eines Tages erneut den Boden unter den Füßen wegreißen, davor habe ich Angst!“

Wir drehen eine letzte Runde um das letzte Stück Pizza. 

Ich muss sie einfach doll drücken, für den Vorhang, den sie nur für mich heut' ganz zur Seite schob. Ich saß allein im Publikum und sah ein Stück vom „Mitten aus dem Leben“, 1. Akt. Ich wünsche mir ein großes Happy End für sie! Und weil jeder mit jedem verbunden ist, ist ihre Geschichte für heute auch ein bisschen meine. Wenn ich sie einst wiedersehe – werde ich sie dann erkennen? Welche Geschichten wird jemand ihr noch in die Haut stechen? Mögen es zur Abwechslung mal völlig neue Extreme sein: extrem schöne. Extrem glückliche. Extrem heitere. Extrem gesunde.