Www. sei Dank, genauer Facebook. Irgendwann hatte sie mich aufgespürt, meine alte Schulkameradin. Keke – größer, älter und schlauer als ich. 

Es folgte auf ein Wiedersehen ein weiteres und noch eins.... und... wir sprechen über dies und über das, wenngleich nur unregelmäßig, denn jeder hatte ja sein eigenes, überfülltes Leben. Was ich über ihres nach und nach erfuhr: es war voller Blessuren – innen und außen!

Vor ein paar Wochen dann dieser Anruf von ihr:

Süße, darf ich dich um etwas bitten?“ - Ich ahne, was kommt und habe sofort einen Kloß im Hals. - „Versprichst du mir etwas?“ Ich schlucke mir den Kloß weg, bevor er sich in Kotze verwandeln kann. „Keke.... ich.... verspreche es! Und du versprichst mir, dass du meine Rede vorher liest?!“ - „Ja. - Und versprich mir noch, dass es am Grab ganz viele selbst gemachte Frikadellen und Gin Tonic gibt! Und dass sie alle lachen und danach fett' Party machen!“ - „Uff, ich... verspreche.“

Sonntag, der 25. Oktober 2020. Ich sitze in dem kleinem Mobilheim in Visselhövede und kann es mir nicht schön gucken: Keke geht es schlecht!Aufgeschwemmt durchs Cortison - eine Gewichtszunahme um mehr als das Doppelte (einst gerade mal 60kg / 1,82m). Sie geht und atmet schwer, der Rollator steht bereit. Aber trotzdem rauchen wir gemeinsam eine, bevor wir über ihren frisch gebackenen Apfelkuchen herfallen.

Es regnet in die Dunkelheit hinein. Die Stimmung drückt mir auf die Tränendrüse, doch ich gerade noch kriege ich die Kurve. Die Augen bleiben trocken.

Kekes fröhlich-freche Art, ihr Optimismus, ihr Sarkasmus – alles noch da! - 1000 Gedanken fegen durch mein Hirn und nehmen auch mein Herz mit in Beschlag. Ich weiß, wie sehr sie Mitleid hasst, doch ich empfinde Mitgefühl, und deshalb schaue ich ihr ganz tief in die Augen und flüstere nicht länger drum herum: Scheiße, Keke, Scheiße! Es tut mir so leid!“ Mehr noch – es tut mir weh!

Keke, geboren am 26. März 1967, als kleines 'Osterlämmchen'. Ein 'Glückskind', wie sie sagt, denn „...alles Negative in meinem Leben verwandelte sich am Ende doch noch in etwas Positives...“

Und doch ist da schon während ihrer Kindheit dieser wiederkehrende Albtraum, in dem sie zu... ertrinken droht. Eine Vorhersehung? Tatsächlich litt sie früh an einer 'Schlafapnoe'. Ihr Bruder wird sechs Jahre nach ihr geboren, doch Keke ist es, zu der die Mutter sagt: „Durch DEINE Geburt erfuhr ich die schlimmsten Schmerzen meines Lebens!“ Etwas, das ein Kind doch niemals hören sollte.

Die ersten Lebensjahre beschreibt mir Keke als 'idyllisch' - mit Kleingarten und Pferd, bis... sie erste Prügel kassiert. Einmal sogar derart heftig, dass der Mutter der massive Stil des Holzlöffels abbricht, als der „...auf meinen Pobacken tanzte!“ Keke, bereits da mit einer gehörigen Portion Sarkasmus ausgestattet, schenkt der Mutter zum Muttertag einfach einen neuen Löffel! Mit 17 lehnt sie sich erstmals auch gegen ihre 'Schutzpatronin' auf, über die sie auch körperlich längst hinausgewachsen war. Keke droht: „DU wirst mich niemals kleinkriegen!“

Erst als Erwachsene erfährt Keke von der 'Borderline'-Erkrankung ihrer Mutter (die Eltern sind schon längst geschieden). Keke zieht jetzt zum Vater und dessen 3. Ehefrau, denkt, sie sei nun endlich frei! Frei??? Bedingt! Eine unruhige Zeit mit zwar viel Freiheit, aber genau so vielen Aufgaben und Pflichten (u.a. Hemden bügeln, um etwas Taschengeld zu kriegen). Geborgenheit sucht sie auch hier vergeblich! Wie auch, wenn der Vater Jahre zuvor mal den Wunsch geäußert hatte, seine Tochter später gern selbst zu entjungfern!? Der Keke im Alter von 10 Jahren unsittlich an den Brüsten berührt! Und der sich eines Tages (nach einer Feier) in einem Hotelzimmer neben sie legt und sich ihr unsittlich nähert!

Du setzt dich nicht zur Wehr. Verfällst in eine Schockstarre, in eine regelrechte Lähmung. Irgendwann hat er aufgehört, doch 'schuldig' fühlte ich mich noch Jahre später!“

Kurz vorm Abi schmeißt sie hin, besucht die 'Höhere Handelsschule', hat endlich 'ne eigene Bude und verdient viel Schotter mit dem Verkauf von Messeständen. Sogar eine Ausbildung (Bürokauffrau) holt sie nach – verkürzt, denn Keke ist ein Überflieger - zu schnell zu gut! - 1990 lockt die Liebe sie nach München. Sie heiratet, langweilt sich, bleibt kinderlos und lässt sich im verflixten 7. Jahr wieder scheiden. Die neue Freiheit ruft, sie wittert schon die geilen Zeiten, feiert ohne Ende, fühlt sich fit, gesund, schlank und sexy; spielt Volleyball, geht wieder reiten und schwingt sich aufs Rad.

Bis zur totalen Erschöpfung arbeitet sie bei 'Schwarzkopff-TV', hat innerhalb von 3 Monaten 240 unbezahlte Überstunden und keinen einzigen Urlaubstag. Nach 7 Jahren 'Talk-Show' ist Schluss – der Aufpreis: Rückenschmerzen, Schwindel und Zusammenbrüche. Diagnose: Burnout! Depressionen und Panikattacken haben sie jetzt voll im Griff! - 2004 lernt sie ihren 2. Mann kennen. Beim Backgammon übers Internet. Schmetterlinge hat sie kaum, doch überwiegt ihr Wunsch, einen 'komplett anderen Mann' - fernab ihres Beuteschemas – zu wählen, in der Annahme, der würde ihr besser tun.

Warum sie ihn gleich heiraten musste?

Ich kann einfach schlecht Nein sagen!“ (Da war sie wieder, diese mir bekannte dreckige Lache, die ziemlich ansteckend ist!) 2007 sitzt sie also wieder auf dem Standesamt, bevor keine zwei Jahre später sie und ihren Mann Untreue und sein wiederholter Suizidversuch auseinandertreiben.

Auf der Plattform 'The second life' schlüpfte sie nun in eine zweite Identität und begegnet der „Liebe meines Leben!“ Noch ist sie verheiratet – der virtuelle Partner aber auch, doch glaubt ihm Keke, als er ihr verspricht, seine Frau zu verlassen. Sie steigt sogar geschäftlich bei ihm ein und wartet vergeblich. Vergeblich auf das Einlösen des Versprechens! Nach über zwei Jahren befreit sie sich aus ihrer Warteposition, wird von ihm verlassen und steht einer auf die die andere Minute mittellos vor den Scherben ihres Lebens. Sie muss ihr Pferd verkaufen, zieht zurück nach Hamburg und schafft mit Glück den Sprung wie ein Phoenix aus der Asche:

Vollzeitjob beim Deutschen Presseverband, dann Pressesprecherin, dann … die nächste Diagnose: Diabetes! Begleitet von Schmerzen, immer mehr und immer unerträglicher. Dann die nächste Diagnose: 'Fibromyalgie' (rheumat. Schmerzerkrankung). Und sogar noch eine: 'Morbus Basedow' (Schilddrüsenerkrankung) und zuguterletzt: 'Arthrose' UND 'Polyneuropathie'.

An 16 Tagen im Jahr lernt sie Schmerzkliniken von innen kennen und ist nach einem Aufenthalt in Bad Füssing erstmals für 3 Monate komplett schmerzfrei, bevor sie erneut und wieder regelmäßig zu Tabletten greift: Tilidin, Tramadol und Palexia.

2019 trifft sie schon wieder – durch einen Zufall – eine weitere Diagnose: 'Pulmonale Hypertonie’ (Lungenhochdruck). Der Schock sitzt tief, kommt aber, wie sollte es auch sein, nicht allein: Keke leidet nun an etwas Unheilbarem: 'Rechtsherzinsuffizienz' schwersten Grades!

Heute wiegt sie 134 Kilo, trägt einen Körper voller Wasser vor sich hin. Die Füße sind dunkel verfärbt. Nachts trägt sie ein Sauerstoffgerät, denn mit der Schlafmaske kam sie nicht klar. Mit dem Rollator bewegt sie sich über den Hof, den Einkauf tätigen vereinzelt Freunde für sie.

Keke erinnert sich. Wie sie noch 2018 top gestylt mit den Jungs von 'GangsUnited' im Pulk marschierte; sie feierte, tanzte und sogar in der Zeitung stand.

Heute begleitet mich mein cooler Rollator – immerhin BlingBling“. Glamour auf Rädern: beklebt mit Sternen, Glitzer, Nieten und Beleuchtung – um so ein Ding nicht vollends abzulehnen! In ihrem Carport wacht ihr Elektromobil (6 km/h), mit dem sie durch die Schlaglöcher ihrer Ferien-Wohnanlage düst.

Ich kann nichts sagen, suche nach Worten und begreife endlich, dass das Beste, was ich tun konnte, war, hierher zu kommen. Zu ihr. Für etwas Nähe und Gesellschaft.

Keke streicht über ihren kugeligen Bauch und hebt ihn schelmisch hoch:

Hierunter liegen meine Organe im XXL-Format: Fettleber, Milz, Nieren, Herz – alles übergroß und nichts davon richtig intakt! Ich sehe im Spiegel ein vom Cortison aufgedunsenes Pfannkuchengesicht, das man nicht mal mehr schick schminken kann. Nun gut, erspart mir einiges Geld!“ Typisch Keke!

Ob sie Sex und Zärtlichkeit sehr vermisse?

Wer will noch wilden Sex mit mir! Niemand pfeift mir auf der Straße hinterher!“

Sie zündet sich die nächste Zigarette an (bis vor Kurzem noch 2 Schachteln / Tag) und wird nachdenklich.

Wie gern ich einen Partner hätte, mit ihm zusammen in meinem 'Zebra' (zum Wohnmobil umgebauter Rettungswagen) unterwegs sein würde. Nur kann ich mich nicht mehr verbiegen, und allein mit meinem Geist verdrehe ich doch keinem Mann den Kopf?!“

Die Gelenke zwicken, das Herz rutscht aus dem Rhythmus, die Luft bleibt oftmals weg. In ihren Augen alles andere als sexy!

Dann spricht sie von dem schlimmsten Augenblick, der hinter ihr liegt: als sie im Sommer am Strand rücklings von der Luftmatratze fiel; sie wie ein Käfer dagelegen hatte und aus eigener Kraft nicht wieder auf die Beine kam; wie die Badegäste sie anstarrten und niemand ihr half, bis endlich der Bruder wieder aus dem Wasser kam.

Welch übler 'Seelenschmerz'! Ich fühlte mich jetzt nicht nur fett, sondern auch hilflos und hässlich!“

Schlimm sei auch so mancher Einkauf im Supermarkt, wenn sie dem Tempo des Warenbands nicht standhalten kann und den Kassierer um mehr Langsamkeit bittet. Verständnis? Fehlanzeige!

Ihr Handgelenk schmückt der Johanniter-Notfallknopf. Angst vor dem Tod? Habe sie keine, nur die Angst vor einer ekligen Erstickung. Allgegenwärtig seien auch die Worte ihrer Ärztin aus der Uniklinik Hannover:

Sie sind nicht nur krank, Sie sind... sehr, sehr krank!“

Schwer für Keke, dieses Urteil wirklich zu realisieren. 

Immerhin hab’ ich ein neues Hobby: häkeln! - Conni, im Ernst - ich bin trotzdem glücklich und zufrieden, habe ein schönes Zuhause inmitten der Natur, tolle Menschen um mich rum, super Freundinnen und bin im Einklang mit mir selbst!“

Vorbei der Stress der alten Tage, der permanente Kampf ums gefallen, ums geliebt Werden, ums erfolgreich, schön und sexy Sein. Vorbei das Leiden unter Depressionen und Panikattacken; das sich wehrlos Fühlen ohne Partner.... vorbei und abgelegt! Es zählt jetzt endlich nur noch das... Genießen im Hier und Jetzt!“

Sie spricht von max. 5 Jahren. - Fuck, das klingt für mich wie FÜNF MINUTEN!

Ich habe tatsächlich meine Mitte gefunden! Sagte ich nicht schon, dass ich ein 'Glückskind' bin?“

Ein Glückskind - wie anmutig das aus ihrem Munde klingt. Aus dem Munde und aus dem Herzen einer todkranken Frührentnerin mit Schwerbehindertenausweis, die sich mit deutscher Bürokratie rumschlagen muss – um für DAS zu kämpfen, was ihr zusteht. „Es gibt halt nix umsonst auf dieser Welt, das weißt du doch!“

Ach, meine Keke. Ein Herz von Mensch und eine gute Seele. Ein fröhliche, freche, so gern lachende und noch immer auch sehnsüchtige Frau. Keine zwei Jahre unterscheiden uns - und doch trennen uns Welten.

Kurz bevor ich gehe, sagt sie noch:

Ich glaube, ich habe alle diese Krankheiten, damit andere um mich herum sie nicht ertragen müssen. Nicht jeder hat meine Kraft und könnte mit all dem umgehen!“

Dann verrät sie mir noch einen letzten Traum. Bevor sie den 'Löffel abgebe', noch einmal mit ihrem 'Zebra' nach Italien zu reisen UND... das sei ihr zweiter Herzenswunsch: all jenen Menschen noch einmal zu begegnen, mit denen sie nie richtig 'abgeschlossen' habe. Mit dem einen würde sie Jägermeister trinken und übers Leben philosophieren, den anderen würde sie gern fragen: „WARUM?!“....auch die Versöhnung mit einer früheren Freundin habe höchste Priorität – neben dem Treffen mit ein paar leidenschaftlichen Ex-Lovern, um noch einmal mit ihnen über Missgeschicke lachen und in Erinnerungen schwelgen zu können, und um verbleibende Lebenszeit aufzufrischen.

Vielleicht meldet sich ja wirklich noch mal einer von denen?“, seufzt sie lächelnd.

Abends blicke sie oft in den Himmel und hegt bei einer Sternschnuppe gleich neue Hoffnung.

Hope never dies“, so ihr Mantra – voller Stolz. Auch tattowiert auf ihrem Unterarm.

Ich fahre zurück und weiß nicht, wann und wie oft ich sie noch sehen werde. Alles ist so greifbar endlich. Was immer der Besuch mit mir gemacht hat – ganz sicher aber mich 'scheiße traurig'.

Und nun sehe ich mich eines Tages an ihrem Urnengrab im Friedwald knien, mit ihren Freunden frische Buletten in mich hineinschaufeln und zu Kekes Lieblingsmucke tanzen. Ich höre, wie sie sagt:

'Mensch Süße, du hast da etwas falsch verstanden! Die Frikadellen solltet ihr doch MIR ins Grab werfen und sie nicht selbst verputzen! Außerdem verlangte ich eine lustige Grabrede, also reiß dich mal zusammen!'

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