Conni Köpp meets Michel Ruge.

(2016)

Vorspann:

Schuld war nur die Bomberjacke. Meine Bomberjacke, ein Original aus 1984! Er wollte sie so unbedingt (für seine Gang) und bringt mich mit moralischen wie unmoralischen Bestechungsversuchen zum Grölen. Wer ist dieser Mann, der alle Register zieht, um mein verdammtes Stück Stoff zu erobern, in dem noch Kaugummi aus den 90ern klebt und 2 Brandlöcher an erste Joints erinnern?! Ich kloppe seinen Namen in die Suchmaschine, und sofort rattert die Kiste, ein Treffer nach dem nächsten! plopp, plopp, plopp....okay! Ich will ne Begegnung, will ein Portrait! Und dafür darf er auch mal ganz kurz meine Jacke überziehen!

 

2 Minuten vorm Termin steht er in bester Laune in der Tür. So dicht, dass mir sein Duftwasser in der Nase brennt. Nein, frühstücken würde er nie, ruft er mir zu, als ich gerade Brötchen in der Küche filetiere... 10 Minuten später krault er sich über seinen satten Bauch.  

 

Michel – ich denke an den 'Lönneberger', doch ER besteht auf die französische Aussprache! (Klingt mir fast zu elegant für einen wie ihn. Verdammtes Schubladen-Denken!) Er wirkt, als paare sich Stil mit Wildnis. Ich finde es heraus! 

Michel ist so eloquent, so offen, so... alles andere als gehemmt (verklemmt), mitunter etwas provokant. Gelegentlich fragt er nach:

„Conni, möchtest du die ganze Geschichte hören?“

Wie gern ich sie hören, sie inhalieren will. Eine Geschichte voller Geschichten, die mehr als nur 1 Leben füllen könnte. Viel für diesen jungen Burschen.... nun ja, gerade mal 6 Monate und 1 Tag  jünger als ich. 

 

*21.12.1969, HH-St. Pauli. Vater Zuhälter und 3-facher Bordellbesitzer. Mutter Kellnerin und süße  17, als Michel auf die Welt kommt. Ihr Zuhause: das Heim in der berüchtigten Feuerbachstraße. Als die Mama nach der Geburt dorthin zurückgeht, kommt Michel ins Kinderheim. 1 Jahr später ziehen Mutter und Sohn endlich zusammen, bewohnen den Heizungskeller eines Stundenhotels, in welchem die Großmutter arbeitet, mit der sich Michel 'non-verbal' versteht und nie Gespräche führt. 

Im Kindergarten ist er der Liebling der Erzieherinnen, die ihn abwechselnd sogar mit zu sich nach Hause nehmen. „War damals so! War eben Kiez! Alle für einen und einer für alle. Wir lebten in Hamburgs sozialstem Viertel!“ 

Seine Mutter heiratet, als Michel 13 ist. „Mein Stiefvater? Prädikat Arschloch!“ Der Kerl will seine Mutter solange schwängern, bis er endlich seinen ersehnten Sohn hat. Michel ist es nicht, und die Mutter bekommt stattdessen noch 5 Töchter.

Gewalt und Brutalität sind ihm nicht fremd, er ist ein Kind des Kiez. Doch Ohnmacht kennt er - als er seine (schwache) Mutter vor den Pranken des Arschloch-Ehemanns nicht beschützen konnte. „Das mit anzusehen, ist tausendmal schlimmer, als selbst verdroschen zu werden!“

 

Michel schwärmt mir vom Kiez und spricht von seiner Biografie 'Bordsteinkönig' (erschien im selben Verlag wie meine Werke - Knaur).

„Hier sind sie alle zusammen gekommen, die Künstler, Loser, Luden, Aussteiger und Nutten. Ein Handschlag war noch was wert, und steckte man Bedürftigen Geldscheine zu, schrieb man keine Schuldscheine aus. Nur wenn der Zaster nicht freiwillig zurückkam, wandte man das Faustrecht an. Und wann habe er, der Kampfsportler und Boxer, selbst zuletzt ausgeteilt? „Gerade erst letzte Woche!“ Mein Puls klettert bis zum Anschlag. Ui, sexy. 

(Ich frage mich gerade ernsthaft, was daran sexy sei, wenn Männer sich mit Ende 40 noch kloppen).

Die 'bürgerliche' Welt kannte er von seinem Eppendorfer Schulfreund. Für ihn verdammt heuchlerisch. Allein Strukturen hätten ihm schon ausgereicht. 

 

Ich kann sie sehen, diese Sehnsucht nach mehr, nach etwas, das ihn ausfüllt. Zwei Ehen hat er hinter sich, „ich lebte sogar Bigamie“; drei Kinder hat er – womit wir bei den Wunden wären, denn nur zu einer Tochter habe er Kontakt.

Ich höre seine Geschichten und es krampft mir das (Mutter)Herz. Ein Suchender sei er, seine längste Beziehung habe 3,5 Jahre gehalten. „Da kommt noch etwas Großes, das weiß ich genau!“

Ich bin mir sicher, doch auch, wie schwer es wird, dem Alltag keine Chance zu geben. Immer auf high level zu sein und stets über Mauern springen zu wollen, auf denen die meisten mit dem Arsch kleben bleiben.

Zukunftsvisionen habe er keine, er denkt gerade mal bis Übermorgen. Unverständlich, wie Leute schon Termine für die übernächsten Wochen machen könnten. "Das macht doch nur unfrei!“

 

Zum Schluss wird’s etwas tabellarisch:

Michel als Junge? „Liebevoller Chaot!“

As Mann? „Sehnsüchtig, schwärmerisch, melancholisch.“

Als Vater? „Ohnmächtig, flüchtig, traurig.“

Als Partner? „180%, leidenschaftlich, enthusiastisch, streng. Ich hebe meine Frauen in den Himmel, bis... nach einem halben Jahr der Alltag kommt...“

Stimmt. Diese verdammten Alltagsmaden, die am Gefühlsleder knabbern.

 

Michel Ruge - kein Sender, der ihn nicht vor die Kamera holte, so dass wohl jeder weiß, dass er mit 12 auf dem Kiez seine Unschuld verlor und bereits als Junge gern 'ne Rolex ums Handgelenkt trug (Anm.: Juwelier WEMPE hatte sein 1. Geschäft auf dem Kiez.).  

 

„Es gibt über 7 Mrd. Menschen mit Lebensentwürfen, von denen 99% nach kopierten Entwürfen leben! Ich kriege keine Luft in Gegenwart von Spießern! Gebt den jungen Leuten keine Lehre, gebt ihnen Leidenschaften und ein eigenes Konzept, das nicht kopierbar ist!“

Er, der auffällig faul in der Schule war, bis eine Wette mit dem besten Buddy die Wende nahm: „Lass uns die Besten werden!“ Er macht sein Fach-Abi, studiert Grafik und weitere 4 Semester  Wissenschaft und Politik. Er konvertiert sogar (zum katholischen Glauben). 

Ihn kann man nicht kopieren. Auch wenn ich denke, dass einer wie er beim Spazierengehen seine Nase hochzieht und mit Rotze den Asphalt schmiert, hat er etwas sehr Ästhetisches! Sehr Gerades! Sehr Ehrliches! Sehr Anziehendes! Ob man ihn wirklich ganz be-greifen kann? „Wenn du dich preisgibst, kann das gegen dich verwendet werden. Nicht mal eine Hand voll Menschen kennt mich wirklich!“ 

 

Go, Michel, go! To Lönneberger oder bis zum Mond, du Unikum!