Gleich werde ich bei der ältesten noch praktizierenden Psychotherapeutin Hamburgs mit zwei warmen Donuts auftauchen - im Tausch gegen ein Füllauf von Lebensanekdoten.
Ihr Name ist Geschichte, mein Entdecken reiner Zufall.
Gudrun Halbrock. Ein strahlendes Lächeln von fast 89 Jahren. Trendig in Schale geworfen, schlank und hoch gewachsen - also volle Augenhöhe!
43 Jahre liegen zwischen uns, doch fühle ich mich heute nicht annähernd so fit wie diese Dame aussieht - vielleicht besteht Hoffnung nach dem Gläschen 'Rotkäppchen', das sie uns liebevoll kredenzt. Wir trinken aufs Immunsystem, bevor wir in die Donat'schen Kalorienbomben beißen. Vorher legt sie mir noch ihre Bücher stolz auf meinen Schoß.
„Mein Herzblut!“ flüstert sie.
Ich kenne das Gefühl und ahne für den Bruchteil einer Sekunde, dass diese Frau vom Sternzeichen her Zwillinge (wie ich) sein könnte.
Aufdringlich hake ich nach und trinke auf meine Intuition: 43 Jahre und 16 Tage früher erblickte SIE das Licht der Welt. Typisch Zwilling, keine Lust auf Rast!
Eloquent legt sie los, wobei ihr Lächeln nicht ermüden will. Nein, sie sei "noch lange nicht am Ende" ihrer Reise!
Ich sitze hier in ihrer Eppendorfer Wohnung, die einem Museum gleicht - Spiegel eines aufregenden Lebens. Wertvolle Erinnerungen vergangener Jahrzehnte.
Geboren in Hamburg, 1926. Mit 6 Jahren zieht die Familie mit 3 Kindern aufs Land nahe Lübeck. Gudrun genießt das Leben mit Kühen und Pferden unter einem Dach. Als sie 8 ist, verstirbt der Vater an TBC und die Mutter zieht mit den Kindern nach Hermannsburg, dem evangelischen Rom, wo alle Halt und Hoffnung in der Religion zu finden wünschen.
Gudrun wünscht sich von der Mutter irgendwann ein Säuglingsheim..... aus diesen Wunsch wird eine 'Pension für Privatschüler'. Sie liebt und genießt den Umgang mit Kindern, ahnt bereits die Auswirkungen enger autoritärer Erziehungsmethoden, denen sie später noch selbst auf die Spur kommen wird. - Nach dem Abi studiert sie auf Wunsch der Mutter Theologie, bricht aber ab. Eine Entscheidung FÜR eine Herzentscheidung: den Rückweg nach Hamburg. Sie wird Gewerbelehrerin, ihr Studium bringt ihr viel Praxis für das Leben.
Und die Liebe?
Männer seien Raritäten gewesen, die meisten im Krieg gefallen, so auch ihr Bruder, in Rußland, mit gerade mal 18 Jahren. Über eine Anzeige lernt sie einen älteren Mann kennen, begibt sich mit ihm und ihrem VW Käfer in den ersten Schulferien auf eine Weltreise quer durchs Land. Als sie mit ihrer Tochter schwanger ist, folgt schnell die Ehe - ein damaliger Pflichtakt, denn: ledige Lehrerin mit Kind? Undenkbar!
Doch die Ehe scheitert, Gudrun ist allein erziehend - mit allen Freuden und Konflikten einer Mutter sowie organisatorischer Schwierigkeiten einer Berufstätigen. Ihr Engagement war die Arbeit, mit Fleiß und Unmengen an Herzblut. Mit 50 Jahren startet sie noch einmal durch und studiert: berufsbegleitende Psychologie. Am Ende hat sie ihr Diplom in der Tasche!
Nach 34 Jahren Lehrtätigkeit geht Gudrun in Pension, legt aber noch immer und schon wieder los - lässt sich 1988 zur Psycho- und Verhaltenstherapeutin ausbilden, Schwerpunkt: Familien- und Erziehungsarbeit. Sie wird Mitbegründerin des VAMV e.V. (Verband Alleinerziehender Mütter und Väter), gründet und finanziert (von ihrer guten Pension) 2002 ihr Lebensprojekt:
Die „Gudrun Halbrock Stiftung zum Wohle der Kinder“ - zur Förderung von Erziehung & Bildung sowie Kinder- und Jugendarbeit nach der STEP-Methode (systematisches Training von Eltern und Pädagogen).
Heute sind die Trainingskurse ausgebucht, dessen Leitung sie in liebevolle Hände von qualifizierten STEP-Trainerinnen legte. Die Themen: Prävention von Erziehungsschäden, Respekt, Disziplin, kooperatives Miteinander zwischen Eltern und Kind für ein starkes Selbstbewusstsein. Erziehung müsse gelernt und erlernt werden.Die Geburt eines Kindes mache noch keine Mutter! Und auch Erzieher müssen doch „Erziehung“ lernen – warum nicht selbstverständlich auch Eltern?
1984 erhält sie den “Hamburger Bürgerpreis”, 2008 die “Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes" (Verdienste um das Gemeinwohl) und 2013 das Bundesverdienstkreuz.
Fast 89 Jahre pralles Leben. Ihre Memoiren hat sie bereits zu Papier gebracht, nun wartet sie auf DEN Verlag!
In welchem Jahrzehnt sie am glücklichsten gewesen sei?
„Heute!“
Heute – das sind für die Grande Dame das Singen im Alzheimer-Chor, Besuche von Französisch-Kursen und die rund 50 Therapiesitzungen im Monat, die sie noch immer nicht als anstrengend empfindet. Überdruss? Keine Spur!
In einem Selbstversuch traute sie sich, einen Tag lang eine klassische Rentnerin zu sein, ohne Aufgaben, doch dafür mit viel Leere - auf Parkbänken oder im heimischen Fernsehsessel.
„Rentner werden gebraucht, und die Aufgaben warten nur so auf diese Generation! Asylantenkinder, denen man Geschichten vorlesen; Leihoma für Kinder ohne Großmütter sein...
Ein Nichtstun können junge Generationen finanziell doch gar nicht auffangen! Und sie müssen es auch nicht!"
Beim Namen 'Sigmund Freud' vergeht ihr zum ersten Mal das Lächeln. Bei 'Alfred Adler' setzt ihr Strahlen wieder ein.
Die Zeit vergeht natürlich wie im Fluge, und mir fällt’s schwer, dem Lauschen ihres Lebens ein Ende zu setzen. - Ob sie selbst auch Fehler bei der Erziehung ihrer Tochter gemachte habe, will ich noch wissen.
„Natürlich!!!!!!!!!“
Wie sie das betont, da fällt mir gleich ein ganzes Mauerwerk vom Herzen.
Als sie mir in den Mantel hilft, erwähnt sie mir noch einmal die Weltreise, die sie gemacht hat. Und auch, wie sie sich manchmal einfach so in einen Zug gesetzt, ohne zu wissen, wo die Fahrt eigentlich hingehen und die Reise enden würde.
Dass mit der Rente das Leben nicht aufhört – ganz im Gegenteil – das beweist Gudrun Halbrock, diese herzliche, verrückte alte Dame. Zu ihrem 100. werd ich noch einmal wiederkommen - mit frischen Donuts - zu … natürlich… Rotkäppchen! :-)
www.kinder-hh.de
www.kinder-respektvoll-erziehen.de
www.kulturpreis-erziehungskunst.de
zum Buch: Senioren "Glück für alt & jung"
"Hallo Frau Köpp, gerade hat mir meine Mutter den Artikel auf ihrem Blog geschickt und ich kann nicht umhin, Ihnen ganz herzlich dafür zu danken! :-) So nett und beschwingt hat selten jemand über meine Mutter geschrieben. MERCI! Ich bin sehr stolz auf meine Mama! Herzliche Grüße, Sonja N."