Auf die Fette, fertig los!
So zweideutig meine Überschrift, so wahr sind beide (Be)Deutungen, was gleich
noch verdeutlicht wird.
Fast zeitgleich trudeln wir am Treffpunkt ein – in ihrer Praxis am Falkenried
(in Kürze dann in Winterhude). Sie wirkt auffallend entspannt, ihre Stimme passt zu ihrem (gefärbten) Haar: engelsgleich.
So sitzen wir uns gegenüber, mit am Tisch: unser Stolz über unsere jeweils
eigenen Bücher, die später mit uns selfies machen müssen.
Nicole Jäger – eine Pfundsfrau im wahrsten Sinne, und mit echt ‚gewichtigen‘
Geschichten.
Eine waschechte Hamburgerin, *17.7.82, die schon am Tage ihrer Geburt alle in
Atem hält: durch kurze Atemaussetzer. Fortan ist sie oft krank, bekommt selbst eine Kinderkrankheit nicht selten gleich zwei mal. Nach 7 Jahren wird ihre Schwester geboren. „Wir sind TRO-PIS
(trotz-Pille-Kinder), weder geplant noch gewünscht gewesen. Umso inniger und näher besteht bis heute die Bindung zu ihrer Schwester. Übergewichtig (dick, nicht fett!) sind ihre Eltern, die nach preußischen Tugenden
erziehen: Pünktlichkeit und Ehrlichkeit. Die Ehrlichkeit des Vaters erklärt sie mir genauer: „Du brauchst keine Markenklamotten, du brauchst ein starkes Rückgrat!“ Auch der Rest der Familie
verschont sie nicht mit deutlichen Ansichten / Ansagen: „Solange du dick bist, stößt du jeden Mann ab!“
Mit kükenhaften 5 Jahren wird sie für ganze 6 Wochen auf Kur geschickt,
beschreibt das Heim als „Krankenhaus-Knast“ mit zweifelhaften Experimenten (u.a. Dunkelkammer), die nie mehr in Vergessenheit geraten werden. Mit 14 folgt der nächste schicksalhafte Meilenstein:
sie fällt beim Trampolin-Springen falsch - verfehlt die Matte. Eine Eisenstange sorgt für den fatalen Ausgang: Hüfte kaputt! Die Familie steht vor einer schweren
Entscheidung: OP und keine Schmerzen mehr, aber mit einer Geh-Chance von 30% oder keine OP, lebenslange Schmerzen, doch mit hoher Wahrscheinlichkeit, wieder gehen zu lernen.
Sie legt sich schließlich unters Messer, doch danach wartet schon der
Rollstuhl – ganze 1,5 Jahre, bevor sie am Barren wieder das Laufen trainiert. In dieser Zeit findet Schul-Unterricht Zuhause statt, verlässt sie immerhin zwei Jahre nicht das Haus und bleibt
Jeglichem fern. Besuch aus dem Freundeskreis? Niemand! Sie bringt es glasklar auf den Punkt: „Reflektion am Krankenbett“!
Zurück in der Schule widert sie die Freude der Klasse über
ihre Rückkehr förmlich an, warum sie deutlich macht: „Ihr könnt mich alle mal!“ Sie trennt sich von der
langen Mähne, legt sich einen pinken Kurzhaarschnitt zu, macht ihr Abi und lässt das alte Leben hinter sich. Später wird sie sich sogar zur Heilpraktikerin ausbilden lassen.
„Die alte Nicole von damals wäre heute niemals meine Freundin, ich hätte sie wahrscheinlich
nicht gemocht: zu unauffällig, zu angepasst, zu ängstlich, zu schüchtern. Eine richtige Mitläuferin.“
Ihre Pubertät war „verloren“, weil Krankheiten diese Zeit überschattet hatten. Doch dann,
mit 17, legt sie endlich los - bis dahin hatte es Liebeleien nur unter Kranken auf der Station gegeben. Doch noch fehlt jeglicher Bezug zu ihrem Körper und Sex hat sie auch nur, „weil man
das eben machte“.
Die langen Narben am Körper sind die letzten Denkmäler vom alten Leben. „Ich fühlte mich
damals weder hübsch noch attraktiv und hätte mich auf Flirtereien niemals eingelassen, eher noch gedacht, da leide doch jemand unter Geschmacksverirrung!“ Heute weiß sie, wie respektlos derlei
Gedanken sind - gegenüber sich selbst und auch dem anderen. Sehr
lange braucht sie, um sich in die Rolle einer a-femininen Frau einzufühlen. „Heute mag ich, wer ich bin, und deshalb musste wohl auch all das passieren, um endlich genau so zu
werden!“
Am liebsten trage sie Kleider und betone ihre Weiblichkeit durch Schmuck und
Schminke. Heute muss sie ihre Kleidung nicht mehr aus den Staaten importieren, seit sie um 150 kg (von 300) leichter ist. Sie braucht auch nur noch EINE Waage.
Ich will unbedingt wissen, welch grausamen Reaktionen sie ausgeliefert war
und werde leider nicht enttäuscht. Mein Adrenalinpegel steigt an und mein Beschützer-Gen macht sich bemerkbar....wenn ich nur jemals Zeugin solcher Verhalten wäre..... nachdem sie also den Gang
zu einigen Ärzten geschafft hatte, wird sie u.a. mit diesen Sätzen konfrontiert: “Ich behandle Sie nicht! Nehmen Sie ab und kommen Sie dann wieder - VIELLEICHT behandle ich Sie dann!“ / „Ich
wünsche Ihnen ein schönes Ableben!“ / „Ich empfehle Abschlachtung!“
Sie sieht mich an und will von mir wissen, wie stark man mit einem
gebrochenen Genick sein kann.... Ich weiß es nicht. Ich bin geschockt. Doch einen hat sie noch für mich: “Dass so was wie Sie überhaupt fliegen darf!“
Heute holt sie alles nach! Und heute kann sie kontern, denn ihr Register cooler Sprüche ist
lang. Eigene Kinder wünscht sie sich nicht, denn „ich möchte niemals etwas entscheiden, von dem ich nicht weiß, ob ich es bereuen könnte. Ich wäre vielleicht keine gute Mutter.“ Trotzdem liebt
die Jäger Kinder – und besonders ihre Rolle als Tante.
In ihre Praxis kommen sowohl Frauen als auch Männer (überwiegend schwule). Es
geht nicht vordergründig um Ernährung, es geht vielmehr um Haltung, Akzeptanz, Verständnis, Essen lernen und Gefühle (dabei). Und es geht um Liebe. „Selbst-bewusst sind sich die Dicken schon, es
mangelt nur am Selbstwert (wert sein).“
Übergewicht ist ein Symptom und keine Krankheit.
Enorm waren auch ihre eigenen psychologischen Aspekte: Einsamkeit, Ängste
(vor Verlust, nicht vor dem Tod), Unsicherheit, sich ungeliebt zu fühlen und starker Leistungsdruck. Sie brauchte keinen Therapeuten, meisterte selbstständig, die ganze Palette ihrer Gefühle zu
zu lassen und die Ursachen zu erkennen. Sie muss jetzt nicht mehr kompensieren, selbst die sozialen Phobien habe sie im Griff: sich schuldig zu fühlen, sich entschuldigen zu müssen – alles, was
in ihrem letzten Leben zum Rückzug führte, weil niemand sie (so) sehen sollte.
Damals, als sie sich als Versagerin fühlte und es nicht einmal mehr zum
Briefkasten schaffte. Bis zu jenem Tag, an dem sie beschloss, sich vom Gewicht zu trennen, weil „ich keinen Sarg zum nächsten Geburtstag kriegen wollte!“ Komisch, trotz der berührenden Geschichten aus ihrem Leben – ich genieße es, ihr zuzuhören.
„Mein Ziel ist es, ein aufrechter Mensch zu bleiben!“
Sie war bereits als Bloggerin bekannt, als rororo sie mit einem Buch-Angebot lockt. So
zieht sie sich fürs Schreiben nach Schottland zurück und bleibt genau zwei Monate.
Sie greift nach ihrem Buch auf dem Tisch und ihre Augen kriegen einen schönen
Glanz. Nach nur wenigen Monaten schafft es ihr Werk bereits in die 5. Auflage!
Sie zahlt einen hohen Preis für Bekanntheit und Erfolg: das Aus ihrer
jungen Ehe.
Zum Abschluss schwärmen wir beide von unseren Lesungen, und insgeheim beneide
ich sie ein bisschen um ihre zusätzliche Bühnenshow, die sie mit Leidenschaft entworfen hat.
Die Zeit ist um, ich habe Lust auf eine Lockerungsübung und frage sie nach
ihrem Lieblingswitz über Blondinen und Dicke. Ihr fällt was ein, doch wie üblich verstehe ich den Witz nicht, so bleibt der Absatz hier frei.
Danke! Ein tolles Gespräch, zeitlich weit überzogen.....und ich weiß, es wird
nicht das letzte gewesen sein. Als ich meine Sachen zusammen packe, fällt ihr noch was Schönes ein:
„Es gibt mich nie in besser
- nicht dünner, nicht größer, nicht schlanker – ich bin die geilste Sau auf dem Planeten – WIE JEDE/R ANDERE AUCH!“
P.S. Ich ahnte es; Diäten sind keine Lösung!
"Die
Fettlöserin"